Stellungnahme zur Vernehmlassung zur Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte

In seiner Stellungnahme zur Vernehmlassung zur Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte hebt Procivis die Wichtigkeit von E-Voting hervor. Der Fokus liegt darauf, wie digitale Technologien die Bürgerbeteiligung und die Demokratie in der Schweiz stärken können.

Als Softwareentwicklungsunternehmen sehen wir unsere Aufgabe nicht nur in der Bereitstellung von sicheren und benutzerfreundlichen Produkten. Wir sehen sie viel mehr auch in der Einbringung unserer Expertise und Erfahrung in relevanten Foren zur Förderung der informierten demokratischen Entscheidungsfindung. Dementsprechend publizieren wir bei dieser Gelegenheit unsere Stellungnahme zum Vernehmlassungsverfahren zur Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte, welche am 30. April in der Bundeskanzlei eingereicht wurde:

Sehr geehrter Herr Thurnherr
Sehr geehrte Frau Hostettler, sehr geehrter Herr Kuoni
Sehr geehrte Damen und Herren

Demokratie ist aus unserer Sicht als individueller und kollektiver Lern- und Entwicklungsprozess zu verstehen – mit offenem Ausgang. Demokratische Institutionen und Prozesse reflektieren immer die kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Gegebenheiten, in die sie eingebettet sind. Wir begrüssen es, dass im Rahmen dieser Vernehmlassung die Diskussion über die technologischen Grundlagen der demokratischen Institutionen der Schweiz fortgeführt wird.

Als Softwareentwicklungsunternehmen, dass mit Smartphone- und Blockchaintechnologie elektronische Identitäten programmiert und 2018 mit der Universität Zürich eine E-Voting-Plattform auf Ethereum (siehe Provotum auf github) entwickelt hat, unterstützen wir die Absicht des Bundes, den elektronischen Stimmkanal weiter auszubauen. Zwei Entwicklungen, die sich seit der Eröffnung des vorliegenden Vernehmlassungsverfahren ergeben haben, zeigen, dass dieses Vorhaben nicht ohne weiteres umzusetzen ist:

  • das befristete Aussetzen der E-Voting-Plattform der Post aufgrund von Mängeln, die beim öffentlichen Intrusionstest zu Tage getreten sind (1),
  • die Lancierung der E-Voting-Moratoriums-Volksinitiative (2).

ad (1): Beim E-Voting handelt es sich um eines der komplexesten IT-Probleme überhaupt, soll doch sichergestellt werden, dass einerseits jede Stimme richtig gezählt wird und andererseits das Stimmgeheimnis gewahrt bleibt. Beim Internet-basierten E-Voting kommt hinzu, dass dies in einer offenen Systemlandschaft geschieht, mit unzähligen unterschiedlichen Hard- und Softwarekomponenten, die sich in einem ständigen Wandel befinden. Mit anderen Worten: sowohl die Fehlerquellen wie auch die Angriffsvektoren sind mannigfaltig, deren Kontrolle eine zentrale Instanz immer überfordert. Nur ein offener, dezentraler Ansatz, der die Kompetenz aller demokratisch interessierter Akteure zum Tragen kommen lässt, maximiert die Qualität des Systems. Das heisst: wir plädieren für einen konsequenten Open-Source-Ansatz mit entsprechender öffentlicher Finanzierung jener, die den Code weiterentwickeln. Abgesehen von der damit maximierten Qualität des Systems lässt sich damit auch die aus Demokratie-theoretischer Sicht problematischen Abhängigkeit von einzelnen wenigen Dienstleistern reduzieren.

ad (2): Die technologisch beste E-Voting-Lösung bleibt irrelevant, wenn sie von der Bevölkerung nicht als solche anerkannt wird. Über die einzelnen Bestimmungen der E-Voting-Moratoriumsinitiative kann diskutiert werden; abgesehen davon ist offen, ob sie zustande kommt, geschweige denn das Volks- und Ständemehr gewinnt. Dessen ungeachtet meinen wir, dass sie ernst genommen werden muss – nicht nur was deren (berechtigten) Sicherheitsbedenken betrifft, sondern weil sie Ausdruck einer grösseren Orientierungskrise ist. In den letzten Jahren hat die Digitalisierung fast jeden Lebensbereich bereits erheblich verändert und vieles deutet darauf hin, dass wir diesbezüglich erst am Anfang stehen. Auch die Politik ist von dieser Entwicklung betroffen. Der Medienkonsum hat sich verändert, die Orte der politischen Auseinandersetzung um die digitalen Foren erweitert, politische Werbung bedient sich völlig neuer Instrumente etc. Es war der richtige Entscheid, dieser Dynamik anfänglich freien Lauf zu lassen. Inzwischen hat das Internet jedoch seine Unschuld verloren (siehe dazu exemplarisch «Report On The Investigation Into Russian Interference in the 2016 Presidential Election» des Special Counsel Robert Muller) und es ist an der Zeit, umfassende Antworten darauf zu formulieren, wie Demokratie unter digitalen Bedingungen aufrechterhalten oder gar weiterentwickelt werden kann. Und welche Rolle dabei der Staat spielen soll.

E-Voting ist hierbei nur in eingeschränktem Masse relevant. Erstens, weil E-Voting nur einen kleinen Teil des Policy-Cycles (Agenda-Setting, Information, Deliberation, Entscheidung, Evaluation) abdeckt. Zweitens, weil E-Voting – so wie jetzt vorgesehen – den politischen Prozess in seiner Substanz nicht verändert. Letzteres ist doppeltermassen problematisch: Durch die Digitalisierung eines unveränderten analogen Prozesses kann das kreative Potential der neuen Technologie gar nicht ausgeschöpft werden, womit die Verletzbarkeit der Demokratie zunimmt, da die Technologie von der Demokratie feindlich gesinnten Kräften sicher vollständig ausgereizt werden (siehe dazu die Kolonisierung der Lebenswelten nach Jürgen Habermas).

Aufgrund der oben gemachten Ausführungen haben wir Zweifel, ob es jetzt der Zeitpunkt ist, vom Test- zum Normalbetrieb überzugehen. Vielmehr meinen wir, dass der Bund eine umfassende Debatte anstossen – und mit seiner Expertise unterfüttern soll, in der folgende Fragen eingehend und unter Einschluss der Bevölkerung erörtert werden:

  • Welche Rolle hat der Staat unter digitalen Bedingungen im Allgemeinen? Wir gehen davon aus, dass sich bei der Beantwortung dieser Frage teilweise eine Neudefinition der Staatsaufgaben, der Staatsorganisation und der Prozesse der öffentlichen Hand ergibt.
  • Wie können die neuen Technologien zugunsten der Demokratie entlang des gesamten Policy-Cycles eingesetzt werden? Welche Rolle kommt hierbei dem Staat – insbesondere dem Bund – zu? Wir gehen davon aus, dass gewissen Aspekte der Antworten auf diese Fragen im Bericht auf das Postulat Müller-Damian 17.4017: «Die Chancen von Civic Tech nutzen» bereits in Vorbereitung sind.
  • Wie kann die digitale Mündigkeit der Bürgerinnen Bürger angemessen gefördert werden?

Wir freuen uns auf einen produktiven Dialog zu diesen überaus wichtigen Themen und hoffen, durch unsere Expertise und Erfahrung zur konstruktiven Diskussion beitragen zu können.

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